21 Als Tochter – Ulli

– 1 –

„An alles Gekochte gehört Salz.“ Ich nahm den Satz, schloss die Tür und ging in mein Leben. Kein Hut. Hofkind, Schlüsselkind, Bahndamm-Kellerkind, Straßenkind, Glück gehabt. Mutter? Manchmal. Traurige Geschichten, heimelige Geschichten, einsame Geschichten, zum Rücken erzählte Geschichten, Geschichten vom Verstehen sollen und Nichtkönnen, zu klein. Mutter? Schwer. So viele Lasten und Bürden, so viel Krieg, Flucht und Trauma, so viel Moral, so viele Gummikorsetts und Diäten, so gefangen. Viel Groll, viel Neid, viel Ilsebill und so viel Angst, vor Krähen, vor Käuzchenrufe in den Nacht, vor den Russen, vor sich selbst, vor mir. Angst frisst Liebe.

– 2 –

Mutter, Mutter wie weit darf ich reisen? Mutter?

Wenn du Walzer getanzt hast, wenn ein verschmitztes Lächeln über dein Gesicht gehuscht ist, wenn du unerwartet solidarisch warst…

Später, wenn wir am Telefon von Frau zu Frau geredet haben, hatten wir einen Ort gefunden.

– 3 –

Plötzlich habe ich keine Geduld mehr den fehlenden Text zu suchen, den über den jugendlichen Ring am alt gewordenen Finger. Wie er mich irritierte und gleichzeitig freute. Du hattest dir noch einmal etwas gegönnt, um dich zu schmücken, das Stundenglas rieselte deinem Ende entgegen. Du wolltest nie über das Sterben reden. Ich ließ es. Du starbst allein. Du wurdest anonym begraben, das war dein letzter Stachel.

Ich habe keine Geduld mehr dich wieder und wieder in mir zu wenden. Gut zu reden, was für das Mädchen schlecht war. Ich habe auch keine Zeit mehr. Ich tröste das Mädchen, die Heranwachsende, die junge Erwachsene, ich, die Alte.

Manche Mütter tun ihren Töchtern nicht gut. Du hast mir nicht gut getan, warum es verschweigen? Ich verwandelte meine Tränen in Zornesblicke, in Trotz und Wegsein. Ich war Zauberin und Meisterin der Tarnumhänge. Du wusstest immer den Moment zu erwischen, in dem ich ungeschützt Zärtlichkeit empfand. Und alles nur, weil ich nicht so war, nicht so ein zuckersüßes Puppenmädchen, wie du es dir gewünscht hast.

„Lass sie gehen, sie gehört nicht zu uns“, als ob das weniger schmerzhaft wäre.

Ich verdanke dir mein Leben. Ich danke dir für mein großes, buntes Leben. Ich konnte an deiner Ablehnung wachsen.

– 4 –

Habe ich getrauert? Ich saß bei prasselndem Regen vor einem Bahnhof im Auto. Der Zug meiner Freundin kam eine Stunde später. Viel Zeit. Es stellte sich mir die Frage plötzlich, unerwartet und ohne Vorgeschichte.

Die Erinnerung ist ein Standbild ohne Ton.

Das Telefon hatte geklingelt, M., mein Neffe, rief mich an:

„Die Omma ist tot.“ Die Omma war meine Mutter. Es wurde still. Ich weiß noch, dass M. mir das Wie und Wann erzählte, dass ich ihm Fragen stellte und seine beantwortete, aber ich finde das Gespräch nicht mehr in mir. Ich höre keinen Ton.

Danach saß ich auf der Treppe vor dem Haus, schaute über das Hochtal, über die Alpen bis in den Himmel und zurück, tagelang. Eingefrorene Stille, bis am Abend das Käuzchen rief. Mutter hatte bei seinem Ruf immer gesagt: „Jetzt ist jemand gestorben.“

Ich sagte an diesem Abend: „Mutter, es ist gut, ruhe in Frieden.“

Mutter ist tot. Neun Jahre schon, und ich weiß nicht, ob ich getrauert habe.

Irgendwann bin ich von den Treppenstufen aufgestanden, hörte wieder den Bach rauschen und die Kirchenglocken ihren Viertelstundentakt schlagen. Ich nickte und bin ins Haus gegangen. Es war vorbei. Ich habe nicht geweint, es gab nur Stille und die Worte am Abend:

„Ruhe in Frieden.“

Das Käuzchen war verstummt.

Ulli Gau 

10 Mutterbilder

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Das Bild ist irgendwann im Frühjahr 1967 entstanden, vermute ich mal, als die letzten Schneereste noch lagen. Ich wurde im Oktober 1966 geboren, könnte auf diesem Bild ein halbes Jahr alt sein, vielleicht auch schon ein bisschen älter. So wichtig ist das auch nicht.

Eigentlich habe ich ein ganz anderes Mutterbild gesucht, eines, auf dem vier Mütter und fünf Töchter zu sehen sind. Es hängt bei meinen Eltern im Hausflur, immer, wenn ich dort bin, gehe ich daran vorbei und kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem es gemacht wurde.

Es zeigt eine Hollywoodschaukel, die lang genug ist, dass ein müder Mensch auf ihr seinen Mittagsschlaf halten kann, sie steht in dem kleinen Garten hinter dem Haus, das von meinen Urgroßeltern erbaut wurde. Ganz links auf der Schaukel sitzt meine Urgroßmutter, in Kittelschürze und mit weißen Löckchen, so, wie ich sie kennengelernt habe und sie immer noch in meiner Erinnerung ist. Sie war Jahrgang 1899, das fand ich als Kind besonders spannend, da sie damit gewissermaßen aus einem anderen Jahrhundert, einer längst vergangenen Zeit stammte. Als ich – vor nicht allzu langer Zeit – mal ein Foto von ihr sah, auf der sie als junge Frau mit ihrem Mann und den Kindern zu sehen war, habe ich sie zunächst nicht erkannt. Zu anders sah die Urgroßmutter auf diesem Bild aus und entsprach nicht dem Bild, das ich von ihr in meiner Erinnerung mit mir trage.

Zwei Kinder bekam die Urgroßmutter, ein Mädchen und einen Jungen und eines davon sitzt auf dem Foto neben ihr: Meine Oma. Geboren 1925, war sie 1945 schon 20 Jahre alt und verheiratet, wenn auch zu dieser Zeit noch ohne Kind. Von ihrem Bruder jedoch fehlt jede Spur, nein, das stimmt nicht ganz: Seine letzte Postkarte schrieb er noch kurz vor Berlin, erzählte die Urgroßmutter, danach kam nie wieder ein Lebenszeichen. Leider auch keine Todesmeldung. Übrig blieb die Tochter. Die Urgroßmutter passte auf, dass diese wartete, bis ihr Mann aus italienischer Kriegsgefangenschaft nach Hause kam. Dabei bewunderte die Tochter die amerikanischen Soldaten, wie überhaupt alles, was aus dem Westen kam und war neidisch auf sämtliche Freundinnen, die sich einen GI angeln konnten, um mit diesem ins gelobte Land zu ziehen.

Statt dessen kam 1946 ihr Mann zurück, sie bekamen fünf Kinder, von denen meine Mutter die Älteste war. Während die Urgroßeltern in dem von ihnen gebauten Haus in der oberen Etage wohnten, lebten die Großeltern in der unteren Wohnung. Wäre der Bruder meiner Großmutter zurückgekehrt, hätte dieser im Haus gewohnt, nehme ich mal an. Da er nie wieder kam, durften die Großeltern dort wohnen. Ja, wie lebt man miteinander unter einem Dach, wenn die eigene Mutter immer wieder erzählt, wie sehr ihr der Sohn fehlt? Wie ist es, wenn man sich damit nur als zweite Wahl fühlen darf? Als Teenie lebte ich einige Jahre in einem Internat, das oberhalb von Berlin lag. Kam ich in den Ferien in das Urgroßeltern- und Großelternhaus, fragte mich die Urgroßmutter gelegentlich, ob ich denn nicht auf den Friedhöfen der Umgebung gucken könne, ob ihr Sohn dort begraben sei.

Wie schon erwähnt, meine Mutter war die Älteste von insgesamt fünf Kindern. Manchmal erzählt sie von dem, wie eng es früher so zuging, schließlich ist das Haus nicht sehr groß: Die exakt gleichen Wohnungen hatten Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und ein Kinderzimmer. Das Klo war auf der halben Treppe, gebadet wurde im Keller in der Waschküche oder in dem kleinen Anbau, den die untere Wohnung hatte. Oma passte auf. dass ihr nichts entging und alles seine Richtigkeit hatte: Einmal wurde meine Mutter von Klassenkameraden nach Hause begleitet, da wartete Oma schon am Gartentor und schickte alle anderen Kinder weg: Hier hätten sie nichts zu suchen. Meine Mutter hielt sich lieber bei ihrer Oma auf, als bei ihrer eigenen Mutter, dort hatte sie ihre Ruhe, sowohl vor den Eltern, als auch vor den drei Schwestern und dem Bruder. Als sie ihr Abitur bestanden hatte, hätte sie gerne in einer anderen Stadt studiert, da sie jedoch die Älteste war, musste sie zu Hause wohnen bleiben und studierte das, was dort eben möglich war. Als künftige Lehrerin lernte sie meinen zukünftigen Vater kennen, wurde schwanger und mit 19 Jahren ebenfalls Mutter. Oben auf dem Bild, auf dem sie den Kinderwagen mit mir schiebt, könnte sie allerdings bereits 20 Jahre alt sein.

Auf dem Foto mit der Hollywoodschaukel sitzt meine Mutter in der Mitte, neben ihrer Mutter. Sie heiratete meinen Vater, noch bevor ich zur Welt kam, damals machte man das so und wenn man etwas Glück hatte und nicht zu große Ansprüche stellte, reichte das für ein ganzes Leben. Allerdings war der Start in das junge Familienglück nicht einfach. Beide studierten, hatten kein Geld und keine Wohnung. Mein Urgroßvater kaufte einen kleinen Ofen, stellte diesen in eine der beiden Dachkammern, die es im Haus gab und in der nur eine dünne Wand von den Ziegeln ein wenig die Kälte und Hitze fernhielt. Diese vielleicht 15 Quadratmeter wurden zur ersten Wohnung. Lange durfte sich allerdings meine Mutter ihrem Mutterglück nicht hingeben, ich sei in die Wochenkrippe zu verfrachten, damit das Studium zügig fortgesetzt werden könne, befand meine Großmutter. Obwohl meine Urgroßmutter interveniert hatte und bereit gewesen wäre, mich zu versorgen – so erzählt es meine Mutter wenigstens – musste ich montags in die Wochenkrippe und durfte freitags wieder nach Hause. An diese Zeit kann ich mich nicht erinnern, zum Glück, nehme ich mal an. Wenn meine Mutter davon erzählt, sagt sie, dass ich freitags keinen Piep mehr sagen konnte, einfach weil mich die Krippenerzieherinnen so lange schreien ließen, bis ich völlig heiser war.

Übrigens: Bis heute ist mein Verhältnis zu meiner Mutter eher, nunja, unterkühlt. Auch das Verhältnis meiner Töchtern zu ihr, immerhin ihrer Oma. Wer von diesen Frauen, die da so nebeneinander scheinbar einträchtig auf der Hollywoodschaukel sitzen, damit angefangen hat, die Töchter emotional auf Abstand zu halten und dafür die Söhne zu hätscheln und hofieren, das weiß ich nicht. Aber es hatte System.

Die vierte auf der Hollywoodschaukel, das bin ich und halte meine älteste Tochter im Arm, die damals noch ein Baby war, gerade ein halbes Jahr alt. Fünf Generationen, fünf Frauen. Ich habe versucht, Dinge anders zu machen als meine Mutter. Ob es mir immer geglückt ist, müssen später meine drei Töchter beurteilen. Leicht war es nicht, schließlich klebt vieles von der Mutter widerwillig ererbte hartnäckiger als Spinnweben an mir und bildet einen Kokon, aus dem ich mich im Lauf der Jahre nur mühsam befreien konnte. Gelegentlich entdecke ich immer noch Reste davon, und weiß nicht: Soll ich mit diesen jetzt Frieden schließen oder sie weiter eifrig abschrubben, solange, bis die Haut gerötet und entzündet ist?

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Links sitze ich neben meiner Mutter, in dem Sommer, der vor der Aufnahme mit den fünf Generationen lag. Viel zu sagen hatten wir uns nicht.

(Sylvia Hubele)

04 Sprachlose Mutterschaft

Jeden Tag geht ein Mädchen durch eine Zechenhaussiedlung im Ruhrgebiet und holt den Vater von der Arbeit. Sie wartet am Tor, im kleinen Laden daneben schenkt man ihr immer einen Lutscher. Wenn sie den Papa holt hat Mama schon das Essen auf dem Küchentisch zu Hause und der Geruch von China-Öl vermischt sich mit dem von Essen. Auf ihrem Rücken hat sie oft noch die schwere Ledermappe mit dem angebundenen Tafelschwamm, die Mutter hetzt, dass das Essen kalt wird und die Kleinen quengeln, da bleibt keine Zeit die Mappe abzusetzen wenn sie aus der Schule heim kommt. Bei anderen Kindern ist das auch so.

Eine Legende will, dass es ein Grubenunglück gab, dem der Vater nur durch den Zufall einer getauschten Schicht entkommen konnte. Andere Kinder haben jetzt keinen Papa mehr.

Nur sind an dem Tor keine anderen Kinder. Jungen schon, aber nicht Kinder. Niemand zum Glanzbilderstechen oder Kästchenhüpfen. Nur sie zum Warten und Lolli essen. Es ist langweilig, aber sie ist die Große, geht schon zur Schule und sie ist ein Mädchen.

Vor allem ist sie Deutsch. Das ist der Vater zwar auch, aber irgendwie auch nicht. Rumänien ist ein anderes Land und Transsylvanien, ja, da kann man gruselige Geschichten über den lustigen Nachnamen ausdenken. Auch wenn wahrscheinlich keine stimmt.

Und die Mutter ist Deutsch. So deutsch, dass sie in Deutschland geboren ist. Also sind beide Eltern deutsch und die Kinder auch Deutsche. Auch wenn der Papa und ein Bruder nicht deutsch aussehen. Die Rumänen sind böse, und haben einen Diktator und der Vater kann gar kein Rumänisch. Paselakkensprache, so!

Das mit dem anderen Diktator, dem, der aus Deutschland kam, das sagt man nicht. Der Papa musste, aber das versteht keiner. Und darüber redet man auch nicht. Erst als das Mädchen erwachsen ist wird sie eine seltsam-eigentümliche Art des Stolzes dafür haben, dass ihr Vater bei der SS war. Der konnte nichts dafür, der musste ja. Er war auch noch jung.

In der Familie redet man darüber nicht. Man redet überhaupt nicht. Man ist nie sauer oder traurig, auch nicht fröhlich oder jauchzend, man ist da und kümmert sich um Mama. Die Mutter sitzt seit Jahren in Kittelschürze auf einem Küchenstuhl, ist immer krank und muss bedient werden. Das Mädchen ist glücklich wenn sie glücklich ist.

Aber irgendwas stimmt nicht. Egal was sie macht und wie gut, es kommt keine Reaktion. Gar nichts. Nur Ansprüche- Und immer an sie. Das darf man nicht denken.

Deshalb heiratet sie. Dann ist sie da weg und außerdem heiratet sie „reich“ und woanders hin. Der Mann ist gerade 18 und wie ein Kind. Dessen Mutter ist ein Ekel. Die findet nicht, dass eine Frau nur am Herd stehen muss, und dass Kinder da sind um die Eltern zu bedienen, außerdem hat sie eine komische Schwester, die hat einen schwulen Sohn und zeigt ihn trotz §175 nicht an. Dann ist da im Freundeskreis vom Mann noch der Typ, der seine Cousine geheiratet und mit ihr einen Sohn hat.

Sie hat niemanden zum Reden, weil sie nur gelernt hat wie man anderen gefällt. Deshalb geht sie zur Mutter, aber an der prallt das ab. Die interessiert es auch nicht, dass sie schwanger wird und dass kaum ein halbes Jahr nachdem das Kind zur Welt kommt die Freundin des einen Bruders auch eine Tochter bekommt. Die Kinder sind da. Der Vater mag das erste Baby, er wird später sagen, es ist die Lieblingsenkelin obwohl man sich kaum kennt. Der Mutter gefällt keins der Kinder.

Die Mutter besucht sie nie zu Hause in der teuren, großen schönen Wohnung weit weg. Das Kind darf auch als Erwachsene nicht erwähnen, dass die Mutter, des Kindes Oma, nie von irgendwem außerhalb der Wohnung, nie bei irgendeiner Aktivität gesehen wurde. Die Geschwister verweigern sich. Eine Schwester, noch weniger lebenserfahren als das Mädchen, wohnt bis zum vierzigsten Lebensjahr bei der Mutter in einem Zimmer mit einem Teppich mit großem Rosenmuster und rosa gesteppter Bettdecke. Die Mutter sagt „Die ist doch da“, die Schwester „Ich kann doch nicht weg“.

Das Mädchen möchte der Mutter gefallen, noch immer und endlich und nimmt ihr dieses ab und jenes. Das ist Mutterschaft für sie. So soll ihre Tochter auch einmal werden. Geredet wird nie.

Gegenüber ihren Kindern ist sie aggressiv und gewalttätig, lässt Missbrauch und Gewalt durch andere an den Kindern zu, weil es nicht sie betrifft und sie nichts dafür oder dagegen kann. Deckt den Ehemann, der für sie wie ein großes Kind ist, dem sie alles durchgehen lässt und den sie gleichzeitig an kurzer Leine hält, bei Straftaten.

So etwas gibt es bei uns nicht. Aus dem Kumpelmillieu in das, was ihr fast als die High Society erscheinen muss. Man wird auf der Straße erkannt.

Sie ändert sich auch nicht als sich das Erkennen in Fingerzeige und Getuschel wendet, weil manche Taten unabänderliche Fakten schaffen.

So wie die Kinder des Kumpels beim Grubenunglück keinen Papa mehr haben, haben ein Papa und eine Mama wegen dem Ehemann keine Tochter mehr.

Sie denkt nicht darüber nach, dass auch sie irgendwie keine hat, wenn sie unkommentiert zulässt, dass ihr Mann vor dem Gericht einen Deal erwirken kann weil die eigene Tochter behindert und er damit genug gestraft ist.

Sie lässt vieles zu an ihren Kindern, das bedeuten muss, dass sie keine Mutter ist, weil die Kinder sich von ihr lossagen müssten. Die Tochter geht, der Sohn entwickelt eine ähnliche Beziehung zu ihr wie ihre Schwester zur Mutter hat.

Dann geht der Mann.

Weil die Kinder sich darüber freuen und der Sohn sich darüber beschwert als zwölfjähriger Junge Kinderbadeschaum zu Weihnachten zu bekommen will sie sterben.

Sie nimmt die Tabletten nicht.

Sieben Jahre später, sie hat einen neuen Mann gefunden, stirbt ihr Vater. Erhängt in seinem Garten. Angekündigt und trotzdem aus der Psychiatrie entlassen.

Die Lieblingsenkelin, ihr erstes Kind, wird nicht zur Beerdigung eingeladen. Es könnte peinlich sein, dass gerade die so weit im Leben gekommen ist. Eine Frau hat Kleider zu tragen, zu heiraten, die Beine breit zu machen und zu Hause zu bleiben.

Die zweite Ehe wird der Versorgung halber geschlossen. Auch hier die vergebliche Rolle als Ersatzmutter. Der neue Mann ist der Sohn eines Missbrauchsopfers und wie ihr erster Mann Trinker. Mit denen kann man herrlich streiten und hat niemals Schuld. Außerdem kann man diesen hier fertig machen. Das tut ihr gut.

Losgelassen hat sie ihren ersten Mann nicht. Noch bis kurz vor der Hochzeit hängt das Hochzeitsbild von damals im Flur. Dass die Tochter das makaber findet zeigt nur, dass die Tochter kein richtiger Mensch ist. Die kümmert sich nicht um die Mutter und sie hat keine Kinder.

Streit, Verleumdung, Ausplaudern von Privatestem. Sie wundert sich, dass ihr keiner vertraut. Versteht nicht warum die Kinder sagen, sie wollen keine Intimgeschichten hören und man kann auch miteinander reden ohne sich gleich anzugreifen. Wem außer den Kindern soll man das denn erzählen?

Irgendwann sagt der neue Mann, er akzeptiert ihr Verhalten nicht mehr. Sie schreit zurück, dass sie nicht akzeptiert, dass er Alkoholiker ist.

Die Tochter weist darauf hin, dass sie sich doch entschieden hat diesen Menschen zu heiraten. Es war keine Zwangsehe und sie wusste auf wen sie sich einlässt.

Sie friert ein.

Sie ist enttäuscht. Verantwortung für ihre Entscheidungen ist etwas, das sie nicht übernehmen will. Das hat die Mutter früher auch nicht getan. Das war eben so und man redet nicht. Sie will, dass alles so ist wie sie es von der Mutter kennt. Die war nie an etwas Schuld. Warum sind es bei ihr nie die anderen? Was macht sie falsch, dass ihre Fehler auf sie zurückfallen?

Die Wut, die sie beim Nachdenken darüber fühlt darf sie nicht artikulieren. Man darf den Eltern keine Verantwortung für irgendwas zuschreiben. Das macht man nicht. Das geht nicht. Man ist doch gebunden.

Das Mädchen, das damals seinen Vater von der Zeche holen ging hat keine Chance mehr darüber nachzudenken ob es nicht doch Alternativen gibt.

Die Mutter stirbt in einem Krankenwagen auf dem Weg zur Klinik. Einer der Söhne, der einzige der Geschwister zu dem das Mädchen Kontakt hält, fährt dem Krankenwagen in einem Auto mit dem Kennzeichen einer Ruhrgebietsstadt hinterher. Er wurde Bergmann wie der Vater. Im Kofferraum hat er eine Tasche mit den Sachen der Mutter.

Einen Tag später schenkt das Mädchen der Tochter das Armband, das sie zuletzt von der Mutter bekommen hat. Die Tochter trägt keinen Schmuck, aber in einer Familie, in der nicht gesprochen wird ist das Kommunikation.

Zwei Monate später steht im Wohnzimmer ein großes Bild der Mutter von Anfang der fünfziger Jahre. Es ist alles, was ihr sagt, dass sie da ist.

Dergl