– 1 –
„An alles Gekochte gehört Salz.“ Ich nahm den Satz, schloss die Tür und ging in mein Leben. Kein Hut. Hofkind, Schlüsselkind, Bahndamm-Kellerkind, Straßenkind, Glück gehabt. Mutter? Manchmal. Traurige Geschichten, heimelige Geschichten, einsame Geschichten, zum Rücken erzählte Geschichten, Geschichten vom Verstehen sollen und Nichtkönnen, zu klein. Mutter? Schwer. So viele Lasten und Bürden, so viel Krieg, Flucht und Trauma, so viel Moral, so viele Gummikorsetts und Diäten, so gefangen. Viel Groll, viel Neid, viel Ilsebill und so viel Angst, vor Krähen, vor Käuzchenrufe in den Nacht, vor den Russen, vor sich selbst, vor mir. Angst frisst Liebe.
– 2 –
Mutter, Mutter wie weit darf ich reisen? Mutter?
Wenn du Walzer getanzt hast, wenn ein verschmitztes Lächeln über dein Gesicht gehuscht ist, wenn du unerwartet solidarisch warst…
Später, wenn wir am Telefon von Frau zu Frau geredet haben, hatten wir einen Ort gefunden.
– 3 –
Plötzlich habe ich keine Geduld mehr den fehlenden Text zu suchen, den über den jugendlichen Ring am alt gewordenen Finger. Wie er mich irritierte und gleichzeitig freute. Du hattest dir noch einmal etwas gegönnt, um dich zu schmücken, das Stundenglas rieselte deinem Ende entgegen. Du wolltest nie über das Sterben reden. Ich ließ es. Du starbst allein. Du wurdest anonym begraben, das war dein letzter Stachel.
Ich habe keine Geduld mehr dich wieder und wieder in mir zu wenden. Gut zu reden, was für das Mädchen schlecht war. Ich habe auch keine Zeit mehr. Ich tröste das Mädchen, die Heranwachsende, die junge Erwachsene, ich, die Alte.
Manche Mütter tun ihren Töchtern nicht gut. Du hast mir nicht gut getan, warum es verschweigen? Ich verwandelte meine Tränen in Zornesblicke, in Trotz und Wegsein. Ich war Zauberin und Meisterin der Tarnumhänge. Du wusstest immer den Moment zu erwischen, in dem ich ungeschützt Zärtlichkeit empfand. Und alles nur, weil ich nicht so war, nicht so ein zuckersüßes Puppenmädchen, wie du es dir gewünscht hast.
„Lass sie gehen, sie gehört nicht zu uns“, als ob das weniger schmerzhaft wäre.
Ich verdanke dir mein Leben. Ich danke dir für mein großes, buntes Leben. Ich konnte an deiner Ablehnung wachsen.
– 4 –
Habe ich getrauert? Ich saß bei prasselndem Regen vor einem Bahnhof im Auto. Der Zug meiner Freundin kam eine Stunde später. Viel Zeit. Es stellte sich mir die Frage plötzlich, unerwartet und ohne Vorgeschichte.
Die Erinnerung ist ein Standbild ohne Ton.
Das Telefon hatte geklingelt, M., mein Neffe, rief mich an:
„Die Omma ist tot.“ Die Omma war meine Mutter. Es wurde still. Ich weiß noch, dass M. mir das Wie und Wann erzählte, dass ich ihm Fragen stellte und seine beantwortete, aber ich finde das Gespräch nicht mehr in mir. Ich höre keinen Ton.
Danach saß ich auf der Treppe vor dem Haus, schaute über das Hochtal, über die Alpen bis in den Himmel und zurück, tagelang. Eingefrorene Stille, bis am Abend das Käuzchen rief. Mutter hatte bei seinem Ruf immer gesagt: „Jetzt ist jemand gestorben.“
Ich sagte an diesem Abend: „Mutter, es ist gut, ruhe in Frieden.“
Mutter ist tot. Neun Jahre schon, und ich weiß nicht, ob ich getrauert habe.
Irgendwann bin ich von den Treppenstufen aufgestanden, hörte wieder den Bach rauschen und die Kirchenglocken ihren Viertelstundentakt schlagen. Ich nickte und bin ins Haus gegangen. Es war vorbei. Ich habe nicht geweint, es gab nur Stille und die Worte am Abend:
„Ruhe in Frieden.“
Das Käuzchen war verstummt.