Weil es hier seit Ewigkeiten nicht weitergeht, ein Verweis auf Menschen, die das Thema weiterführen: zum Beispiel hier.
Mutterbilder in der Literatur
25 Geburt
Zum Tag meiner Geburt habe ich meine Mutter begleitet. Wir kämpften von unterschiedlichen Richtungen, während sich das Licht brach, schworen wir einander nicht aufzugeben. Die Hoffnung nicht zu verlieren, die Zuversicht. Ich versprach ihr: durch mich wirst du geboren. Sie versprach mir, ich werde dich niemals verlassen, du wirst kaum einen Unterschied fühlen. Und die Natur und die Menschen um uns herum waren unermüdlich bei ihren Bestrebungen, uns zu trennen. Du wirst ihn endlich ansehen können, sagten sie ihr, ihn im Arm halten, aber meine Mutter wusste, sie vertrieb uns beide aus dem Paradies, wir waren auf dem Weg von der Vorstellung in die Wirklichkeit. Unumkehrbar dieser Weg. Und so lag ich wenig später blutverschmiert auf ihrem Bauch, während sie schon in diesem Moment die Schmerzen vergessen hatte und zögerlich versuchte an sich zu glauben. Zu glauben, die Liebe mit der mein Anblick sie überschwemmte, würde schon genügen, um nicht alles verkehrt zu machen. Würde die Angst überwinden können und die Unsicherheit.
07 Anatomie eines Mutterleibs
Ich weiß nichts Dunkleres denn das Licht.
Ernst Meister
Die schwarze Frau
Ich fuhr dann immer weiter, um auf keinen Fall Gefahr zu laufen,
an einem bestimmten Ort jemals anzukommen.
Es gab Zeiten, da wünschte ich mich zurück an den Anfang,
mied aber Bahnhöfe ähnlichen Namens,
und nicht einmal in Gedanken erlaubte ich mir das Wort
Heimweh auszusprechen.
Ich mochte dieses Wort nicht, dessen Klang in mir unmittelbar das Bild
eines uralten Mannes am Fenster hervorrief,
der die Gegenwart verachtet und sich stattdessen die Vergangenheit schön
träumt.
Die Vergangenheit ist aber nicht schöner als die Gegenwart.
Ein verwackelter Schnappschuss in altmodischen Kleidern und verrutschten Hüten
verdient es keineswegs, dass man gerührt innehält und den Enten altes Brot hinwirft.
Um einen Augenblick lang glücklich zu sein, braucht man eigentlich
nur vor die Tür zu treten und das Leben bei seinem unaufhörlichen
Sich-ereignen zu beobachten,
und sofort wird man mit reifen Kirschen belohnt.
So laufe ich durch meine Tage, und fädelte sie am Abend zu einer Kette,
nicht ohne Anspruch auf Schönheit und Stimmigkeit der Farben und Formen,
ich bin stolz auf jede einzelne Perle, noch auf die verlorenste,
die keinen interessanten Gedanken tiefgründig zum Schimmern bringt,
ich bin stolz, auch wenn ich zu keinem Menschen keinen wahren Satz sage, kein
überwältigendes Naturerlebnis habe und keinen einzigen Blick erhasche,
der mich denken lässt, auch ich bin im Mythos enthalten,
selbst wenn sich dieser sich gerade hinter dunklen Wolken verbirgt.
Ich denke, alles, einschließlich meiner selbst, ist gerade so stimmig und schief
wie es eine einigermaßen interessante Bildkomposition nun einmal erfordert.
Am Rande, eine weibliche Figur,
leicht verwischt, sich wie ein Wildschwein an den Bäumen des Waldes
kratzend.
Damals beschloss ich, inmitten eingebildeter Gefährten,
jeden Tag mit einem Gänsekiel ein Gedicht zu kalligraphieren.
Ich saß auf einem alten Lehnstuhl im bescheidenen Wohnzimmer
meines Elternhauses und schaute aus dem Fenster auf den
zerzausten Garten.
Die Tageszeit war früher Nachmittag. Ich war allein zu Hause.
Oder meine Mutter hielt gerade ihren Mittagsschlaf.
Ich war jung und kannte nur wenige Zeilen, um sie gegen die
Welt zu halten. Ich nahm einen Stift statt des Kiels, den meine Phantasie
mir suggeriert hatte und begann etwas Anderes zu schreiben, als das,
was ich eigentlich im Sinn hatte und siehe, es funktionierte irgendwie
und funktioniert nach so vielen Jahren
noch immer.
Wenn man mich danach fragt, gebe ich gerne Auskunft über das,
was ich aus mir geschöpft habe, zeige meine selbst gebastelten Kleider
und beschreibe die Farben, mit denen ich meine Innenräume austapeziert habe.
Mein nacktes Gesicht verberge ich unter Tüchern, aber mit Worten
kann ich etwas anfangen und sie mit mir,
wir sind ein kleiner Jahrmarkt und darauf eine Bude
mit einem einfachen Spiel ohne genaue Spielregeln.
Hereinspaziert.
Jeder ist willkommen.
So kam ich zur Welt, zumindest bilde ich mir das ein, indem ich
mich selbst erschuf, aber in Wirklichkeit war es so, dass meine
Mutter mit mir im Wald spazieren ging und dabei Angst hatte,
mich zu verlieren. Auch ich hatte Angst, sie zu verlieren.
Dann drehte ich mich um, und sie war plötzlich fort, und die guten Tiere
des dunklen Waldes waren auch fort, und wer sollte das Kind nun
an einen sicheren Ort geleiten?
In Sprach-und Ratlosigkeit hinein aber wächst Sprache und Rat.
So etwas Ähnliches wie Poesie.
Woher kenne ich nur dieses Wort?
Vielleicht hat meine Mutter es mir noch rasch ins Ohr geflüstert
bevor sie beschloss, einfach hinter hohen Bäumen zu verschwinden.
In Wirklichkeit ist meine Mutter aber gar nicht verschwunden,
sondern wartet nur ab, dass sich in ihrem Leben etwas Außergewöhnliches
ereignet, dass sie endlich das bekommt, was ihrer Schönheit zusteht
und bislang grausam vorenthalten wurde.
So gehen ihre Jahre ins Land.
Die mit körperlichen Reizen reich beschenkte Frau, die sie in ihrer Jugend
gewesen war, verwandelt sich Schritt für Schritt zu einer
verwirrten Alten, die plötzlich in ihrer Wohnung umfällt und auf der Erde liegen bleibt
und erst am nächsten Tag von der Polizei gefunden wird. Man bringt sie fort,
und wenn man das Wort fortbringen hört, dann schwant einem zurecht
nichts Gutes, und auch in diesem Falle bedeutet es natürlich nicht Gutes,
denn nun hat sie sich selbst unwiderruflich verloren.
Niemals wird sie wieder nach Hause zurückkehren und ihre Dinge,
nutzlos geworden durch Abwesenheit, landen allesamt auf dem Müll.
Dies ist der Anfang eines langsamen Endes, wie es Menschen zustößt,
denen es partout nicht gelingen will zu leben und die das Leben dennoch
so verzweifelt lieben, dass sie es unter keinen Umständen loslassen können.
Unsere letzte gemeinsame Reise führte uns in eine weltläufige Stadt in der Schweiz,
die sich in ihrem Kopf auf etwas Unbekanntes reimte.
Niemals war es mir gelungen, mich gegen ihren Willen zur Wehr zu setzen,
und so begleitete ich sie auch diesmal widerstandslos.
Wie jede unserer Reisen wurde auch diese zu einem vollendeten
Desaster.
In Wirklichkeit reimte sich diese reinliche und übersichtliche Stadt nämlich
auf rein gar nichts.
Und sie war wie immer enttäuscht und erzürnt darüber,
dass wieder einmal eine fremde, feindliche Wirklichkeit
die Oberhand über ihre Phantasie behalten hatte.
Und ich sagte, um des lieben Friedens willen, ja,
du hast recht, die Welt hat sich gegen dich verschworen.
Sie fuhr und ich blieb, und später sprach mich
ein älterer Amerikaner in einem vor Lebensfreude nur so strotzenden
Hawaiihemd an und fragte mich, ob ich nicht etwas mit ihm trinken wolle,
und ich lehnte höflich ab und kaufte mir stattdessen
ein unentschuldbar teures Parfum.
Am Ende des Tages war meine Mutter dank der selbstlosen Hilfe geflügelter
Wesen heil zu Hause angekommen. Wieder einmal war es
gerade noch einmal gut gegangen.
Sie war nicht unterwegs verloren gegangen
wie ich es den ganzen Tag lang befürchtet und gehofft hatte.
Immer geht es gerade noch einmal gut in dem Sinne,
dass niemals das Schlimmste oder gar das Allerschlimmste,
auf das ihre ganze Familie täglich gefasst ist, tatsächlich eintritt.
In den Zwischenräumen geschieht allerdings im Laufe der Zeit so ziemlich alles,
was ein Leben von Stufe zu Stufe unmerklich in einen Bereich
gleiten lässt, in dem es zunehmend menschenleer wird und totenstill,
und in dem nach und nach alptraumartige Wesen das Regiment
übernehmen, die sich einen Spaß daraus machen, all den Unglücklichen,
die von der seltsamen Krankheit befallen sind,
einfach nicht leben zu können, ihre kleine verdrehte Existenz
zur Hölle auf Erden zu machen.
Sie will es allerdings nicht anders, denn in ihrer Hölle wohnte schließlich
die Wahrheit.
Ihre Blicke und ihr Herzschlag und ihr Hochmut reichen tiefer.
Solche überheblichen Augenblicke sind Teil jenes ständigen Auf und Ab,
mit dem sie ihre Familie jahrzehntelang in Atem hält.
Und was können wir, die wir uns mit allem zufriedengeben, so
wie es gerade kommt, ihrer tiefen Weltsicht der vollendeten Katastrophe
schon entgegen schleudern?
Den freundlichen Sonnenschein?
Die Kapriolen unserer possierlichen Haustiere?
Also identifizieren wir uns mit allen ihren Anklagen und entschuldigen
uns förmlich bei ihr dafür, dass das Leben, einschließlich
unserer eigenen Wenigkeiten, so wenig nach ihren Vorstellungen
eingerichtet ist.
Es ist das halt- und hilflose Wesen der Mutter, das die Tochter
zu einem noch in den misslichsten Lebenslagen
stets zuversichtlichen, ihren Mitmenschen
unverdrossen Mut und Zuspruch spendenden Wesen formt, was dazu
führt, dass sie bald – und für alle Zeiten − von allerlei Verrückten umgarnt wird,
die sich auf wundersame Weise von ihr begriffen und angenommen fühlen.
Ich hasse diesen Menschenzoo aus tiefstem Herzen und mache an ihm
alles wieder gut, was ich an ihr versäumte.
Am Abend liest meine Mutter gerne Kryptisches.
Obwohl sie nicht studiert hat kann sie lesen.
Es kommt vor, dass sie aus heiterem Himmel zu glänzen beginnt,
und unmittelbar stellt sie uns alle in den Schatten.
Genießt sie es?
Dauert ihre Hochstimmung lange genug, um den kurzen Augenblick
des Triumphs auszukosten?
Als ich zehn Jahre alt bin überzeugt sie mich für den Rest meines Lebens
davon, dass ich ein dickes Mädchen bin. Ich solle
mich doch nur einmal aufmerksam im Spiegel betrachten. Ein anderes Mal,
ein paar Jahre später, ohrfeigt sie mich, als sie mich dabei ertappt,
wie ich mich ziemlich hoffnungslos im Spiegel betrachte.
Was immer sie auch sagt, wir antworten grundsätzlich affirmativ.
Meine Unförmigkeit tut mir herzlich leid, und natürlich leuchtet es mir
unmittelbar ein, dass sie sich mit einer solchen Tochter unmöglich
in der Öffentlichkeit blicken lassen kann.
Du kannst ja nichts dafür, sagte sie gnädig und streicht mir zerstreut
über das ungewaschene, von ihr persönlich ungeschickt zurecht geschnittene
straßenköterfarbene Haar.
Als ich alt genug bin, liebe ich immer denjenigen am meisten,
der mich am wenigsten liebt.
Weiche, freundliche Jungen mit langen Locken fallen von vorneherein
durch das Raster. Ich lege mich denen zu Füßen, denen es niemals
eingefallen würde, mich auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.
So ist die natürliche Ordnung der Dinge wiederhergestellt oder eigentlich
niemals verloren gegangen.
Ich warte auf sie am Treppenabsatz wie ein Hund auf seinen Herrn.
Voller Furcht, sie könne eines Tages aus meinem Leben
verschwunden sein. Erst wenn sie endlich am Ende der Straße
auftaucht, ist das Kind, das ich war, erleichtert und muss mit den Tränen
kämpfen, um nicht nach Strich und Faden von ihr ausgelacht zu werden.
In Wahrheit denkt sie gar nicht daran zu verschwinden.
Um sie loszuwerden, mich frei zu machen von ihren Beschuldigungen
muss ich schon selber gehen.
Im Nachtzug von Bielefeld schwebe ich in den Namen jener Stadt,
den ich nach allen meinen damaligen Möglichkeiten im Vorfeld
meiner ersten großen Reise auf jede nur erdenkliche Art und Weise
ausgelotet habe: P-A-R-I-S.
Im Jardin de Luxembourg lese ich die Gedichte Apollinaires.
Ich verstehe kein Wort, aber ich sitze im Jardin de Luxembourg
und rauche und lese die Gedichte eines Mannes mit dem
verheißungsvoll klingenden Namen Guillaume Apollinaire.
Zwar liegt mir nicht plötzlich die Welt zu Füßen, aber ich begreife,
die Lage ist nicht aussichtslos, ich kann fort. Sie kann nur bleiben
und zusehen wie ich gehe.
So wird sie mit ihren alten Möbeln und inneren Verrücktheiten alt und
immer elender.
Bis zu dem Tage, an dem sie beschließt, dass die Welt ihrer Schönheit
nicht länger würdig sei, war sie eine schöne Frau.
Nun hat sie keine Lust mehr, ihre Zeit noch länger zu vergeuden.
Als Kind hätte ich ein Königreich gegeben für einen Kuss
von ihren Lippen. Heute sitzen wir nebeneinander und
schauen aus dem Fenster in den Park des Pflegeheims und
sprechen ein paar zärtliche Sätze über die Bäume und
das Wetter.
Dann wird es dunkel.
Ich habe ihr mein Wort umsonst gesagt.
Sie hat mir ihr Wort umsonst gesagt.
Dann müssen wir beide gehen.
Das Letzte, was ich von ihr sehe ist,
wie man ihr einen Teller Suppe hinstellt und
sie mit bloßen Händen in ihn hineingreift.
Diese Gier.
Dann bin ich auch schon im Aufzug verschwunden
und dann in meiner eigenen Dunkelheit.
Ein Kind lieben
Wie es uns an einem Tag gefallen mag und am nächsten nicht mehr,
verkehren sich die Dinge von Augenblick
zu Augenblick in eines ihrer zahllosen Gegenteile
und ehe man sich versieht,
ist man auch schon auf den Kopf gestellt und
bekommt fast keine Luft mehr, aber es muss immer weitergehen,
so lautet das ewige Gesetz des Lebens. Hilfe, ich bekomme
keine Luft mehr, aber nein, das ist nur der Wind, der
Wind, das himmlische Kind, bitteschön, da hast du dein himmlisches
Kind, deinen schlauen Hänsel, dein allerliebstes Gretelchen, dein Kindlein mit dem
roten Samtkäppchen, das auszog, den Wolf mit List und Übermut zur Strecke zu bringen.
Es ist aber kein Märchenkind, sondern ganz wirklich, dein Kind aus Fleisch,
Knochen, Blut und Zuckerwatte.
Frisch und rosig liegt es im unvergleichlichen
Duft alles Neugeborenen in seiner Wiege aus Wind.
Da hast du dein Wunder, deine Aufgabe, dein tiefes dunkles Glück.
Viel Freude bis an das unabsehbare Ende deiner Erdentage, spricht Meister Adebar,
und ist auch schon durchs Fenster am blaugrünen Februarhimmel verschwunden,
und ich bleibe zurück mit einem Häuflein Lebendigem auf dem
Schoß.
Hilfe, sage ich und lege das Lebendige erst einmal vorsichtig
auf dem Fußboden ab, wo es wenigstens nicht runterfallen kann,
und verlasse das Zimmer. Auf dem
Balkon zünde ich mir eine Zigarette an und an deren Ende die nächste
und übernächste.
Das Lebendige ist kleiner als meine alte Katze, aber bei guter Pflege wird es sein
Gewicht bald verdoppelt haben. Wenn es Hunger hat schreit es,
und ich öffne meine Bluse. Wenn ich ihm gehorche ist alles ganz
einfach.
Dann muss ich dem Lebendigen noch einen Namen geben,
aber wie kann ich denn wissen,
wie es später einmal genannt werden möchte?
Der Einfachheit halber nenne ich es K.,
dann weiß es schon mal, worauf es sich gefasst machen kann, auf alles nämlich,
und ich muss ihm nicht erst lang und breit erklären,
dass wir uns in einer Art Labyrinth befinden und
dass nach dem ersten Türhüter an jedem neuen Eingang ein immer mächtigerer
Kollege dafür sorgt, dass wir nicht womöglich übermütig werden.
Am Abend ihres ersten Tages auf Erden ist K. mit Milch und den notwendigsten
Informationen versorgt, und weil sie mir irgendwie herzlich leidtut und
weil es so finster draußen ist, nehme sie mit ins Bett, wo sie mir die
vollkommen schwarze Nacht
verschreit.
K. will leben und die Nacht will kein Ende nehmen.
Gib, sagt sie, als könne sie schon ordentlich sprechen, und ich gebe, denn ich habe sie schon
verstanden und meine zu wissen, worauf es ihr eigentlich ankommt.
Ich gebe was ich kann und was ich nicht kann, noch habe, noch geben will.
Blicke, Spiele, ungeschickte Lehren und Küsse auf
ihre unwiderstehlich gut riechende Haut.
Dafür lässt sie mich in ihre Augen schauen.
Und wenn ich nicht so vollkommen übermüdet wäre, dann
könnte ich in ihnen mühelos die glasklare Ewigkeit erkennen.
Wer bist du?
Und wer bin ich?
Natürlich, ich sollte es wissen, sollte fest umrissen sein,
damit du weich sein darfst.
Ich wickele dich in Windeln.
Ich kleide dich in Filz und Wolle.
Ich setze dir eine selbstgestrickte Mütze auf den kahlen Schädel, und du lachst.
Ich betrachte dich wohlgefällig, stecke dich in einen Rucksack
und beschließe, dich auszuführen.
Keiner sucht sich aus, was ihm als erstes auf dieser Welt begegnet.
Ich kann auf jeden Fall für nichts garantieren.
So schaukelst du auf meinem unzuverlässigen Rücken hin und her.
Welches ist eigentlich deine Lieblingsfarbe, frage ich dich.
Meine Lieblingsfarbe ist blau, antwortest du, nein grün, nein gelb, nein rot
und immer so weiter.
Du willst mich an der Nase herumführen, und ich lasse dich wild sein.
Ich bin müde.
Oft schlafe ich mitten am Tage ein, und nur durch
ein Wunder fällst du mir nicht aus den Armen, und wenn
ich aufwache schaust du mich an, und wir machen einfach
da weiter, wo wir gerade stehen geblieben waren.
Du bist wunderschön und die Leute bleiben vor deinem von
vier weißen Schimmeln gezogenen Wagen stehen.
Und ich stehe daneben und weiß nicht recht, was ich sagen soll.
Der Mythos von Mutter und Kind.
Alles drängt in ihn hinein, will erzählt, erinnert, auf keinen Fall
vergessen werden. Nichts ist zu groß oder zu klein,
zu herrlich oder zu fürchterlich, um nicht irgendwo in ihm
noch seinen Platz zu finden.
Keine noch so unwahrscheinliche Variante kann seine Wasser je ausschöpfen
und ihn zum Versiegen bringen.
Der Mythos von Mutter und Kind wütet und weht unbeirrt durch die
Jahrtausende.
Medea tötet ihre eigenen Kinder.
Kronos entmannt, um an die Macht zu gelangen, seinen Vater
und verschlingt seine Kinder. Ödipus heiratet seine Mutter und
tötet seinen Vater. Wir kommen alle von der Gewalt, der schlimmen,
die Himmel verdunkelnden Tat, die wir vor uns selbst und einander
notdürftig mit dünnen Tüchern verbergen.
Niemand sieht uns zu, wie wir uns durch die unendliche Folge
von Tagen und Nächten wurschteln, und doch werden auch wir
erzählt, immer weitererzählt.
Nach drei Monaten haben deine Augen die Ewigkeit schon vergessen,
und ich habe den Augenblick glatt verpasst, an dem du den entscheidenden
Schritt in unsere Welt tatest.
Nun ist die Ewigkeit für immer vorbei und du, gedächtnislos,
bist ganz von dieser Welt.
Einmal beobachten wir im Park zwei verbissen kämpfende Hunde und
du beginnst laut zu lachen.
So klingt also dein Lachen.
Von nun an schaue ich dir einfach zu.
Wie du lernst Purzelbäume zu schlagen.
Wie du Freundschaften schließt.
Wie rot zu deiner erklärten Lieblingsfarbe wird.
Ich schreibe dich auf (heimlich) und
du beginnst Bilder für mich zu malen.
Ich schaue dir zu: wir gehören zusammen, so heißt es,
aber das stimmt nicht ganz, du bist ganz fremd und eigen,
und ich weiß nicht, wem ich es anvertrauen kann,
dass ich die ganze Zeit über dich nachdenke und
dabei zugleich über mich selbst, dass ich nicht anders kann
als uns beide auf Schritt und Tritt zu beobachten,
wie wir uns aufeinander zu bewegen und uns wieder
von einander abstoßen. Du
mit deiner roten Mütze, ich mit meinem bunten Schal.
Dort gehen wir inmitten eines Häusermeeres mit blühenden Baumkronen,
durch unsere zufällige Gegenwart,
aber was in uns rumort sind Steine, Muscheln und Fische, die genau wissen,
was sie von uns wollen, ihre Stimmen sind verführerisch, wie
können wir ihnen widerstehen, wenn sie uns bitten, ihr Leben
noch einmal zu wiederholen, auf dass sie sich am Ende besser begreifen mögen?
Dort gehen wir und halten uns anfangs noch an den Händen, dann machst
du dich plötzlich los und läufst davon, und ich bleibe wie
angewurzelt stehen.
Lauf fort. Komm zurück.
Komm zurück. Lauf fort.
Wir sind Menschen, natürlich, und das sind unsere Möglichkeiten.
Immerfort muss ich über uns nachdenken.
Darüber vergesse ich ganz, mit dir zu lachen.
Menschen aus abgelebten Zeiten spielen in uns Werfen
und Fangen und wir spielen − was bleibt uns anderes übrig –
geduldig mit. Aus ihren Ordnungen ist kein Entrinnen
und nicht aus der Harmlosigkeit der Gespräche mit den anderen
Müttern, deren eigene Selbstverständlichkeit sich auf ihre properen Kinder
überträgt, auf jedes Stück Weg, jedes Stehenbleiben, Hinsetzen, Niedlich-finden,
jedes Wort, dass sie ihren Kindern zurufen, das man Kindern zuruft,
weil sie eben Kinder sind und weil man sie doch der Welt auf jeden Fall
gefügig machen muss.
Diese vollkommenen Muttertiere in ihren blauen Hüten und ihren
rosa Wangen und Worten.
Bis Isabelle auftaucht, die die nackten Füße ihrer Kinder,
die beide nach berühmten, unglücklichen Musikern heißen,
im Hochsommer ohne lange zu überlegen in robuste Gummistiefel
steckt.
Überlebt man auch.
Ich bin erleichtert.
Am Anfang waren einmal Vater, Mutter, Kind.
Dann werden es immer mehr Menschen, ein unübersichtliches
Durcheinander, aber dir gefällt dieser Ameisenhaufen. Du bist
nun auf deinem eigenen Pferd unterwegs, und ich winke dir nach,
wenn du morgens wegreitest und wenn du wieder nach Hause
zurück kommst steht die Suppe schon auf dem Tisch.
Manchmal schmeckt es dir anderswo besser. Du liebst es,
mit Menschen am Feuer zu sitzen
und mit bloßen Händen Fleischstücke auseinderzureißen
und genüsslich zu verschlingen.
Du trägst nun einen Hut mit einer langen Feder.
Mein Kind muss nicht betteln um einen Kuss
von meinen Lippen.
Es muss nicht am Ende der Straße so tun als warte es nicht auf
mich.
Ich bin da, und sei es nur, um ihm lange nachzuwinken
und viele Male good luck hinter ihm her zuschreien, auch wenn es mich
schon längst nicht mehr hören kann.
Was ich damit meine ist, dass mein Kind keine Angst vor den
Dunkelheiten haben muss. In der Nacht, versuche ich ihm zu erklären,
verstecken sich alle diejenigen, die es gut mit uns meinen.
Und wenn sie zum Fürchten aussehen, dann nur,
weil sie sich zu unserer Unterhaltung verkleidet haben. Ich
spreche so, weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass es ohne
Märchen nicht geht, dass kein Kinder-, noch Erwachsenenleben
zu bestehen ist, ohne dass es sich der Illusion hingibt, unverwundbar
zu sein, unendlich geliebt und beschützt, nicht nur von den Lebenden,
sondern auch von den Toten und von denen, deren Existenz
so unwahrscheinlich ist, dass man eigentlich
nur darüber den Kopf schütteln kann.
Du bist unsterblich, sage ich, und versuche so gut
es mir eben gelingt meine Worte durch meine Blicken zu
beglaubigen.
Mein Kind soll auf jeden Fall ruhig schlafen
unter seinem Hut mit Fasanenfeder.
K. ist jetzt einen Kopf größer als ich, und wir erleben im Laufe der Zeit alles,
was Menschen miteinander erleben dürfen und müssen.
Ich bin müde, höre ich mich neuerdings manchmal sagen,
und dann sagt K., die in Wahrheit einen schönen,
klassischen Mädchennamen trägt,
der sie von Jahr zu Jahr besser kleidet,
nicht müde werden, komm, ich erzähle dir
ein Märchen.
Coda
Die Wahrheit ist aber, dass die Kinderangst vor der Dunkelheit niemals aufhört,
sondern sich in etwas Anderes verwandelt, in die Gewissheit nämlich, Teil
zu sein eines Körpers, der nicht mir allein gehört und niemals
gehören wird. Ich sehe ihm zu, diesem Körper, wie er unablässig
seine Formen und seine Konsistenz verändert, wie in ihm bald dieses,
bald jenes Gesicht aufscheint, uralte Gesetze
eingehalten und wieder und wieder gebrochen werden.
Wenn ich meine Füße auf die Erde setze, kennen sie ihre Wege ja schon.
Von überall her kommen Menschen gelaufen, um mich zu begrüßen,
ganz so als stünden wir seit ewigen Zeiten im vertrauten Umgang miteinander.
Aber ich tue so, als habe ich sie nicht gesehen und gehe einfach immer weiter,
denn ich vertraue ihnen nicht mehr.
Im Übrigen erwartet man mich an einem Ort, den ich vergessen habe.
Schau, meine rosenrote Kette, mein goldener Gürtel und
meine Sonntagsschuhe aus abgestoßenem Samt, die ich dir heute
ganz offiziell schenken möchte.
Hör zu, wir sind alle um Ecken gedacht.
Schlaf jetzt.
Morgen werde ich versuchen, dir nichts mehr zu erklären
und du wirst beginnen, mich langsam zu vergessen.
Die Schwäche der Mütter
„Immer habe ich stark sein müssen, dabei wollte ich am liebsten nur schwach sein.“ (Wunschloses Unglück, Peter Handke).
Und ist dieses Zitat nicht der Satz der Müttergeneration, der sich in den Frauen fortpflanzt von Mutter zu Tochter, von Generation zu Generation?
Und nichts ändert sich, weil alle Beteiligten zwanghaft nach einer Lösung suchen, statt sich das Dilemma einmal zuzumuten. Es einfach zuzulassen und auszuhalten.